Andacht

Weil Gott in tiefster Nacht erschienen,

kann unsre Nacht nicht traurig sein (EG 56)… so erschallte es am Heiligen Abend 1963 aus der vollbesetzten Frankfurter Katharinenkirche. So einstimmig die Melodie erklang, so unterschiedlich waren die Sängerinnen und Sänger: Ur-Frankfurter, Jung und Alt, amerikanische Militärangehörige fern der Heimat, griechisch-orthodoxe Gläubige, Obdachlose. Die Liedauswahl für diesen ökumenischen Gottesdienst war nicht einfach. Es waren kaum Lieder zu finden, die allen Gottesdienstbesuchern gleichermaßen vertraut waren. Allerdings sollte sich auch niemand zurückgesetzt fühlen. Was tun? Der in der Ökumene aktive Pfarrer Dieter Trautwein schuf die Lösung in einem eigens für diesen Abend komponierten Lied. Es war zwar auf deutsch verfasst, aber die Melodie war für alle gleichermaßen neu. Weil Gott in tiefster Nacht erschienen … nach seiner Erstaufführung wurde dieses Weihnachtslied über die Stadtgrenzen hinaus verbreitet … und stieß auf Widerstand! Hier gibt es keine tiefste Nacht! wurde dem Dresdener Stadtjugendpfarrer zusammen mit der Verweigerung der Abdruckerlaubnis beschieden, als er das Lied im folgenden Jahr für eine Andacht in der Kreuzkirche genehmigen lassen wollte. Tiefste Nacht – Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Damals vor 2000 Jahren in Israel haben die römische Besatzung und soziale Missstände das Leben überschattet. In diese Dunkelheit hinein strahlte das Jesuskind, um als der menschgewordene Gott an Gottes Liebe zu erinnern. Damit war nicht sofort alles gut, aber Hoffnung konnte erstarken. Tiefste Nacht – Trennung und Feindschaft. In den 1960er Jahren wütete bei uns der Kalte Krieg mit seinen hässlichen Verleumdungen und Wettrüsten und Mauerbau. Die Kirchen konnten Nischen sein für mutiges Denken. Damit allein war noch keine „Wende“ erreicht, aber in der Gemeinschaft wuchs Mut. Tiefste Nacht – Polarisierung und Ungewissheit. In unseren Tagen drängt die Frage: Wo wird es hingehen? Und die Sorge brennt, dass wir uns mehr und mehr voneinander entfernen … auch unter Glaubensgeschwistern. Der gemeinsame Weg bleibt herausfordernd, aber unser Glaube lädt ein, das Verbindende zu suchen. Für mich steht die „tiefste Nacht“ in diesem Lied unabhängig von Zeit und Raum. Tiefste Nacht – Angst, Ohnmacht, Einsamkeit, Verschlossenheit, Ziellosigkeit, Schuld. Gegen diese Dunkelheiten des menschlichen Lebens hat sich Gott in Jesus Christus in unsere Welt und unser Leben gegeben. Es gibt weiterhin auch trübe und dunkle Tage, aber sie sind in Gottes Liebe und Nachfolge nicht endlos.

Gesegnete Advents- und Weihnachtszeit

wünscht im Namen aller

Ihre Pfarrerin

Susanne Willig